Der Volltext zur Videobotschaft von EU-Parlamentspräsident Martin Schulz.

Liebe Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Fresacher Toleranzgespräche,

wir erleben turbulente Zeiten in Europa. Die EU steht vor Herausforderungen wie selten zuvor in der Geschichte. Die Flüchtlingskrise, zunehmender Nationalismus, die nach wie vor nicht vollendete Wirtschafts- und Währungsunion, die dramatisch hohe Jugendarbeitslosigkeit, das drohende Ausscheiden Großbritanniens aus der EU, die Gefahr durch Terrorismus oder der Kampf gegen den Klimawandel sind nur einige der drängendsten Probleme. Gerade die Flüchtlingskrise zeigt uns deutlich, dass wir auf ein globales Phenomen wie die Flüchtlingsbewegungen keine nationalen Antworten geben können. Das geht nur im europäischen Verbund, und doch erleben wir, wie in vielen Ländern der Vorrang des Nationalen und des nationalen Alleingangs vor der gemeinschaftlichen Lösungen obsiegt.

Diese Entsolidarisierung schadet uns allen, gerade aber auch den Menschen, die bei uns Schutz vor den Bomben Assads oder dem sogenannten Islamischen Staat suchen. Und vergessen wir eines nicht: Wir hätten gar keine Krise, wenn sich alle Länder an der einer solidarischen Lösung beteiligen würden. Denn ein oder zwei Millionen Menschen auf 28 Länder mit über 500 Millionen Einwohnern zu verteilen, das kann problemlos gelingen. Wenn sich aber allzu viele Länder aus ihrer Verantwortung stehlen, dann wird das für die Länder, die Flüchtlinge aufnehmen, ein Problem.

Und genau von den Ländern, die sich verweigern, wird die EU dann kritisiert, die Flüchtlingskrise nicht in den Griff zu bekommen. Einen derartigen Zynismus habe ich selten erlebt. Aber er passt leider ins Bild eines in vielen Teilen Europas erstarkenden Nationalismus. Dieser Nationalismus artikuliert sich immer lauter und hemmungsloser, egal ob hier im Europäischen Parlament oder in vielen nationalen Parlamenten.

Das erfüllt mich mit tiefer Sorge. Hier gerät etwas aus den Fugen, dem wir uns mit all unserer Kraft entgegen stellen müssen. Wir müssen laut und deutlich sagen, dass die Populisten für alles einen Sündenbock haben, aber für nichts eine Lösung, und dass ihre Politik der Ausgrenzung, der Abschottung und des Aufeinanderhetzens Europa schon einmal in die Katastrophe geführt hat.

Liebe Gäste der Fresacher Toleranzgespräche, die europäische Einigung ist eine der größten zivilisatorischen Errungenschaften, die unser Kontinent je gesehen hat. Europa hat nach furchtbarem Leid, Rassenwahn, Krieg und Vertreibung wieder zusammen gefunden und einen historisch einmaligen Aufstieg erlebt. Dafür hat die EU 2012 den Friedensnobelpreis bekommen. Heute ist dieses großartige Projekt durch nationale Egoismen gefährdeter denn je. Dabei brauchen wir das genaue Gegenteil. Wir müssen weiter vertiefen was uns vereint, nicht was uns trennt.

In einer sich immer weiter vernetzenden Welt, in der andere Länder und Regionen unaufhaltsam aufsteigen, müssen wir unsere Kräfte bündeln, denn der Anteil Europas und seiner Nationen an der Weltwirtschaftsleistung, an der Weltbevölkerung geht zurück. Wer angesichts solcher Aussichten glaubt, jetzt habe die Stunde der Nationalstaaten geschlagen, der leidet an Realitätsverlust.

Uns mag die Entwicklung vielleicht nicht gefallen, wir können sie auch nicht umkehren, aber wir können sie in unserem Sinne gestalten, wenn wir uns zusammen tun. Während kein Mitgliedsland alleine, so einflussreich es auch sei, Interessen und Werte durchzusetzen vermag, können wir es vereint sehr wohl schaffen, die Spielregeln im Wettkampf der Märkte mitzubestimmen. Unsere Wirtschaftskraft entsteht aus dem gemeinsamen Binnenmarkt, und mit dessen Stärke im Rücken können wir unsere wertebasierte europäische Gesellschaftsordnung für die Zukunft sichern und ausbauen.

Wollen wir unsere Handlungsfähigkeit, unser Gesellschaftsmodell und unsere Demokratie wahren, dann brauchen wir Europa. Wollen wir die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts meistern, dann brauchen wir Europa. Wenn wir uns unterhaken, wenn wir solidarisch handeln und beherzigen, dass wir gemeinsam stärker sind als alleine, dann kann und wird das gelingen. Wenn wir nicht zusammen halten, wenn wir in unsere Einzelteile uns zerlegen, dann driften wir in die weltpolitische Bedeutungslosigkeit ab. Bündeln wir allerdings die Macht der 28 Staaten und unsere 500 Millionen Menschen und die Kraft des reichsten Binnenmarktes der Welt, dann können wir etwas bewegen. Ich bin fest davon überzeugt: Ein starkes, ein einiges Europa wird die Herausforderungen der Zukunft meistern können.

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